Gespräch mit Herrn Hallo

Zwar komme ich aus meiner Wohnung eigentlich niemals heraus. Wenn ich jedoch etwas brauche, was mir der Arbiter nicht transportiert, er weder bringt noch abholen kann mit seinem so schrecklich normalen Gesicht; ein allerdings oft doch recht komisches, sehr seltenes Material, verlasse ich manchmal mein Haus.

Die Einkaufsliste ist deshalb recht kurz. Diesen kleinen Besorgungen schließen sich kurze Spaziergänge an, die meist jedoch in der Nähe geschehen. Vielleicht bin ich etwas bequem, ein wenig ängstlich wohl außerdem; fürchte mich schließlich noch ganz zu verlaufen, bleibe in meinem Umkreis, kenne im Grunde nur wenige Straßen, wandle in der Umgebung meines bescheidenen Domizils.

Dort treffe ich auf meinen Wegen nun allerdings stets einen Herrn. Ich glaube, es sind schon Jahrzehnte vergangen, da hatte er mich angesprochen, zum ersten mal sich vorgestellt, dieser Robert Hallo, sich damals schon ziemlich herausfordernd mitten in den Weg gestellt, mir frech seinen Namen genannt.

Sogleich erschien er mir komisch und eigentlich doch ziemlich ernst. Ganz seltsam darum bemüht, diesen Eindruck durch flüchtige Gesten, einer Mimik, die einstudiert, ja vollkommen unnatürlich wirkt, beständig noch zu verstärken. Denn alle seine Bewegungen vermitteln eine Hektik, die allerdings sehr künstlich erscheint, als hätte er sie erlernt, von jemand übernommen, versucht sie sogar noch zu steigern. Er macht dabei wilde Verrenkungen, rudert gehetzt mit den Armen, zappelt hin und her, verlagert doch ständig den Schwerpunkt, ein schwankendes Schiff auf unruhiger See; zieht alberne Grimassen; redet über alles, doch eigentlich über nichts; verwirrt mich mit seinem Geschwätz, stellt dumme, nutzlose Fragen; zieht schon fast im Minutentakt vollzogene Aussagen wieder zurück, entschuldigt sich auch noch dafür, lenkt von der Thematik, die er doch gerade erst angeschnitten, schleunigst wieder ab.

Nur blieb diese lose Bekanntschaft, es mag wohl mein eigener Fehler sein, bis heute doch leider bestehen. Und wenn ich es recht bedenke, bekam ich seit jener Zeit auch nie wieder Kontakt zu irgend einem anderen Menschen. Es war mir jedoch gelungen, zu Hallo von Anfang an eine gewisse Distanz aufzubauen; wir haben unsere Straßenbekanntschaft wohl niemals weiter vertieft. Mir wäre auch der Gedanke, mit diesem Menschen befreundet zu sein, mit der Zeit unerträglich geworden. Im Umgang zwar verbindlich, habe ich stets vermieden, einen persönlichen Ton anzuschlagen. Wir waren uns eigentlich einig, und dies beruht nun tatsächlich auf einer gewissen „Gegenseitigkeit“, uns nicht einmal zu mögen.

Wir haben uns auch niemals eingeladen. Ich bin nun darüber nicht traurig! Er hat mir keinen Besuch abgestattet, noch geschah es umgekehrt, und übrigens auch nicht durch andere. Es gab dazu keinerlei Anlaß, wohl beiderseits nicht das geringste Bedürfnis.

Es ist nun aber leider so, daß mir der Hallo fast ständig begegnet; im Grunde geschieht es wohl täglich. Wenn ich die Straße betrete, oft sind es nur wenige Schritt, nachdem ich so fest meine Haustür verschloß, treffe ich auf diesen Herrn. Es hat sich wohl einfach ergeben; ein Zufall, der mit den Jahren mir allerdings doch recht komisch erscheint.

Im übrigen will er vermeiden, er hat es sogar zur Bedingung gemacht, darauf legt Hallo den größten Wert, mir wäre es ziemlich egal gewesen, daß die gemeinsamen Treffen so beiläufig wie nur möglich geschehen und selbst für den nächsten Passanten wie zufällig erscheinen. Er mag eben keinerlei Aufmerksamkeit, scheut das Licht der Öffentlichkeit, als wolle er verhindern, daß irgend ein Verdacht auf ihn fällt.

So haben sich die Orte der lose geknüpften Zusammenkünfte im Laufe der Zeit sehr verändert. Denn abgesehen davon, daß Hallo inzwischen wohl längst ein fester Bestandteil meines täglichen Lebens geworden, den ich nun freilich nicht leugnen kann, nicht wirklich noch bestreiten, meidet er doch ganz instinktiv fast jede feste Verabredung.

Wir finden uns meist nur in großen Cafés, Bars oder Restaurants, doch eigentlich überall dort, wo Menschen sich zwar begegnen, doch eher wohl gelegentlich, recht oberflächlich zu treffen pflegen; auch manchmal in hektischen Fußgängerzonen, ja selbst an lauten Verkehrsknotenpunkten, die ganz nach Hallos Geschmack so richtig dröhnen und stinken. Es stört ihn dort überhaupt nichts, nein eigentlich ganz im Gegenteil, entzündet sich daran seine so ganz unbestimmte, grundlose Begeisterung. Auf eine ihm wohl ganz eigene Art heizt er sich an Orten auf, die vor kaltem Grau so fad und eintönig sind, berauscht sich an ihrem Lärm, dem Pestgestank der widerlichsten Gase. Dann hat eine künstliche Euphorie schon ganz von ihm Besitz ergriffen.

Sein Grundbedürfnis erscheint mir recht klar: Hallo fühlt sich am wohlsten, je größer Jubel und Trubel, Gedränge und Geschiebe, das allgemeine Gewühl. Dann wird Hallo aber sehr selbstbewußt, läuft überhaupt erst zur Höchstform auf, plappert ohne Unterlaß, findet beim Reden kein Ende; und alle müßten ihn hören, ja ziemlich laut und überaus deutlich den Hallo doch vernehmen. Sie tun aber wenigstens so, als ob sie ihn gar nicht hörten. Auch wenn es bei diesem Wirrwarr schon beinahe unmöglich erscheint, ihn wirklich zu verstehen, dies ist höchstwahrscheinlich auch gar nicht bezweckt, sind die Leute um ihn herum doch eigentlich nicht taub, müßten in der Lage sein, bei seiner nicht gerade sehr leisen Stimme, ihn wenigstens akustisch noch irgendwie zu vernehmen. So braust sein grelles Gekreische für mich aber wie ein Wirbelsturm über die Köpfe der Menschen. Doch niemand scheint ihn zu hören, so sehr er sich auch bemüht, doch eigentlich vollkommen rücksichtslos die Menschen anzuschreien.

Doch fällt er wohl nirgends mehr auf. Gerade in solchen Momenten seines höchsten Glücks, wenn alle durcheinander reden, die allgemeine Konfusion, das heilige Tohuwabohu seinen alten Höhepunkt schon nahezu wieder erreicht, ihm jedenfalls ganz unaufhaltsam zueilt, wird Hallo anscheinend unsichtbar, von niemanden gesehen; und immer öfter kommt es mir vor, als wäre ich der einzige, der ihn überhaupt noch erkennt; und alle, obwohl sie direkt vor Hallo stehen, berühren ihn oft schon beinahe, schauen hindurch bis zu mir, als sei er schlichtweg aus Glas.

Auch wenn es zu Hallo nicht passen mag, lacht er dann eigentlich ständig, schüttelt sich regelrecht aus, wirkt manchmal schon beinahe drollig, erscheint mir dann fast wie ein netter, doch eigentlich herzlicher Kerl. Er rührte die Herzen der Menschen, wenn sie ihn denn hörten, nur irgendwie verstehen könnten. Nur droht in solcher Stimmung sein schweres Gemüt wie billiger Sekt einfach überzuschäumen. Es dauert oft gar nicht mehr lang, dann flucht er wild vor sich hin, fühlt sich irgendwie mißverstanden, verfällt schließlich in ein Gerede, das spricht von den Menschen nur haßerfüllt, ist gegen alles und jeden, preist Perversion und Zynismus als letzter, wahrer Lebensform; ja predigt im Grunde den Untergang.

In solchen Augenblicken zeigt sich sein wahrer Charakter, kippt die Stimmung jäh um, verliert er wohl jede Beherrschung. Man mag Hallos große Unhöflichkeit, sein kaum gezügeltes Temperament, auch daß er mich niemals zu Wort kommen läßt, dies alles noch verzeihen; sind es doch seine obszönen Gebärden, die aggressive Mimik, der unstillbare Haß, von dem sein ganzes Gesicht so erfüllt, die einem doch immer wieder den Abend mit ihm so fürchterlich verderben.

Ich weiß nicht, wen er dann eigentlich sieht, mit welchen Augen er mich betrachtet, wenn er doch fast schon zu toben beginnt; ziehe es dann aber vor, es mir besser nicht auszumalen, was er in solchen Momenten mit mir am liebsten machen möchte, verlasse fast immer fluchtartig den Raum.

Doch eines muß man ihm zugestehen, eine besondere Gabe, die er in reichem Maße besitzt, und die ihn vom Rest der Menschheit wohl deutlich unterscheidet. Es ist wohl seine Fähigkeit, sich selber zu vergessen. Er ist nämlich in der Lage, seine Umgebung fast körperlich in sich aufzunehmen, ja beinahe magisch „aufzusaugen“. So kam es mir oft schon so vor, als fließe etwas von außen mit ein, all den Gesprächen neben uns, dem Flüstern der Menschen, ja selbst ihrem Schreien, dem ganzen Lärm, auch wenn sie sich so billig und vollkommen geschmacklos kleiden, ja selbst ihren eigensten Körpergerüchen, was Hallo mir ständig zu sagen versucht. Bei aller Grobheit, ja Brutalität ist Hallo doch äußerst empathisch. Selbst fremdes Schmatzen und Jauchzen, im Grunde sogar ihr Ächzen, wenn sie vor Einsamkeit seufzen, im Kummer für sich alleine stöhnen, wird von ihm innerlich umgesetzt und irgendwie noch verstärkt.

Auf solche Weise gelingt es ihm, mich aus der Reserve zu locken, beständig aufzuregen, ja aus den Gedanken zu reißen. Dann ist sein Ziel schon erreicht. Und so bleibt mir gar nichts mehr übrig: In jedem Augenblick, wenn dieser Herr auch nur anwesend ist, bleibe ich stumm und schweige, sage doch längst schon kein Wort.

Und als wir uns noch auf der Straße trafen, an irgend einer Ecke, war es kaum anders gewesen. Schon dort zerfiel das Gespräch in unzählbare, scheinbar so chaotische Fetzen, die allesamt, nicht nur in sich selbst, als wären sie vorher so ausgesucht, ganz seltsam konstruiert, sich sorgfältig widersprachen. So floß alles ineinander, wurde in seinem Mund, dem Temperament des Herrn Hallo entsprechend, wie in einem Rührwerk vermanscht.

Nur eines blieb aber bestehen: Alles was ich weiß, weiß ich ausschließlich durch Hallo. Er ist mein Tor zur Außenwelt, ohne ihn wäre ich nichts!

Und soll ich ihn schließlich beschreiben? Falls jemand mich fragen sollte, weil mich doch ganz bestimmt niemand fragt: Wie sieht er denn eigentlich aus?

Selbst wenn man Hallo fast täglich erlebt, ist es nun wirklich nicht leicht, nein eigentlich ganz unmöglich, ein Beschreibung abzugeben, seine Äußeres zu bezeichnen.

Ganz sicher, er hat eine Nase. Bei einem solchen Menschen, dem gar nichts anderes übrig bleibt, der sich auf seinen Instinkt blindlings verlassen muß, auf eigentlich gar nichts sonst, vermutlich wohl eine der größten.

Sein Mundwerk ist sicherlich auch nicht sehr klein. Und aufgestülpte, wulstige Lippen, die würden sehr gut zu ihm passen.

Und schließlich muß er noch Augen besitzen, recht enge, schmale Schlitze aus angeborenem Mißtrauen; sonst käme er in seiner Welt auf gar keinen Fall zurecht, denn eigentlich sieht er fast nichts.

Nun sind solche „Gespräche“ mitunter aber gleich, sind ohnehin Monologe, die er höchst erregt, oft regelrecht agitierend, in sonderbarem Tonfall, so alle von sich gibt. Doch endlich wieder Zuhause, verschließe ich hinter mir die kleine, feste Tür mit Sicherungen aller Art, hatte mir zahlreiche Schlösser besorgt; setze mich an meinen Schreibtisch und denke an Hallo zurück, frage mich immer öfter, nein eigentlich fast ständig, worum es denn eigentlich ging.

Nur sind in solchen Augenblicken fast alle Einzelheiten doch längst wieder passe. Wie war noch jener Gedanke, ein ganz bestimmter Satz, der mich vielleicht aber angesprochen; und welches Thema vermochte dieser Heißsporn auf vielfältige Weise, so engagiert, ja farbig und spannend zu schildern?

Ich kann mich daran nicht erinnern, muß meiner eigenen Wahrnehmung nicht nur in jenem Fall, in allem, was Hallo so sagt, wohl unbedingt mißtrauen.

Und häufig weiß ich noch nicht einmal, bevor ich nicht vor die Haustür gehe und scheinbar wieder Gewißheit erlange, ob Hallo denn überhaupt lebt, ob er ein Herr oder Dame sei, ob er denn wirklich ein Mensch.