Der Filmregisseur

Und eigentlich ist es unmöglich, sein Studio von innen zu sehen, es wirklich zu betreten. Zwar soll es dort Führungen geben, ich kann diesen wilden Gerüchten mangels eigener Anschauung nicht wirklich entgegentreten, sie aufrichtig entkräften. Sie sind jedoch dem engsten Kreis, den wichtigsten Kameraleuten, vor allem den Schauspielern selbst vorbehalten, noch höchstens einige Drehbuchautoren dürfen einen scheuen Blick in das Innerste werfen. Und dennoch, wenn ich es recht bedenke, ganz ehrlich mit mir bin, glaube ich auch daran nicht mehr. Natürlich kann man nie wissen, was er jenen Künstlern erzählt, was man ihnen vorgeführt.

Sie sehen von seinem Studio doch höchstens wohl Attrappen, nicht einmal die fernsten Ausläufer jenes kahlen Vorgebirges, dessen hinterste Gipfel unendlich fern erscheinen, daß sie das Studio für immer verbergen, nach allen Seiten vor fremden Blicken bewahren. Man kann es auch nicht überfliegen, schaut jedoch die ganze Zeit, fast ununterbrochen, Tag für Tag, ausschließlich seine Filme. Vielleicht mögen einige Auserwählte im Traum noch etwas anderes sehen.

Doch kann man nicht den Filmregisseur an seinen alten und neuen Filmen, an ihrer Gestaltung und „Machart“ erkennen? Zwar fehlen noch immer Vergleichsmöglichkeiten, nur hat er nicht, wie alle wirklich großen Künstler, eine ganz besondere, wohl unvergleichliche „Handschrift“?

Denn jedes Stilmittel wandelt sich, wie jeder Künstler, der sich der Wahrheit verschrieben hat, mit der Zeit doch verändern muß. Eines seiner Lieblingssujets aus den allerletzten Jahren ist zweifellos der „Straßenfilm“. Wie immer nutzt er für sich eine gewisse Geschwindigkeit, die er im Film aber stets überhöht, oft regelrecht überdreht, mit dem einzigen Ziel, beim Zuschauer noch mehr Verwirrung zu stiften.

Alles, ja die ganze Welt, landet auf seinem Schneidetisch. Ungezählte Blechkarawanen, die sich zwar unaufhaltsam, nicht selten jedoch recht zäh fortbewegen, stellt er so geschickt zusammen, malt ein gewaltiges Bild von reißenden Flüssen aus Stahl, die sich einem Malstrom gleich unwiderstehlich im Kreise drehen, ergießen sich bald auf die Autobahn, sind höchstens jedoch ein Zerrbild seiner wirren Gedanken, die sich im Verkehr, in der rauhen Wirklichkeit in aller Schärfe begegnen. Erst wenn sie aufeinander geprallt, werden sie sinnvoll ergänzt, vermag er in einem „Massencrash“ sich endlich zu beruhigen, findet eine Reinigung statt, der Filmemacher vielleicht zu sich selbst. Denn so liebt es der Chefregisseur: Riesige Heere aus Stahl, in Blechdosen thronende Einzelkämpfer, krönen mit ihrem Gehorsam jene Form des höchsten Autismus. Es hat aber der Filmregisseur noch nie einen bösen Gedanken gehegt. Seine Werke sind fromm und fern jeder Gehässigkeit.

Nur was geschieht mit den Schauspielern? Eingeschlossen in etwas, was sie doch eigentlich fortbewegt, sind jene lebendigen Gegenstände, die einen wirken recht schmal, die anderen sind mehr oval geraten, welche man gewöhnlich, im allgemeinen Sprachgebrauch noch immer als „Köpfe“ bezeichnet, durchaus jedoch in der Lage ein solches Vehikel zu „lenken“, in eine bestimmte Richtung zu bringen. So spielen sie mit in den Straßenfilmen, vermögen ihre Welt, es mag für sie tatsächlich so sein, mit „eigenen Augen“ zu sehen. Sie sind jedoch mit den „anderen“ Köpfen, die ständig in Bewegung stehen, genau wie sie selbst, auf eigene Weise verbunden, in ein gewaltiges Netz fremder Gedanken eingebunden. So blicken sie durch ihre Windschutzscheibe ununterbrochen nach vorn, werden ihre Augen zu flinken, kleinen Filmkameras. Die arbeiten die ganze Zeit, doch ohne daß sie es merken, für den gewaltigen Filmregisseur.

Es wäre die Welt des Filmregisseurs doch eigentlich undenkbar, wenn es nicht den „Fortschritt“ gäbe, den jene Köpfe nun allerdings in ihrer völligen Unschuld und ohne jede Kenntnis der tatsächlichen Umstände, wohl meist einen „technischen“ nennen. So stecken die Köpfe doch längst nicht nur in den unendlichen Blechkarawanen, nein, eingeschlossen in etwas, das keiner von ihnen versteht, fließen sie in Kabeln, werden in Sendemasten über das nutzlose Land geschickt. Darin herrscht eine Geschwindigkeit, die jeden wohl zwangsläufig wahnsinnig macht, wobei er jedoch in der Lage ist, auch dieses hohe Tempo noch irgendwie ständig zu steigern. Denn so liebt es der Filmregisseur. Die Köpfe, sie können auf gar keinen Fall, so sehr sie es auch möchten, aus solchen Bahnen entfliehen, sehen die Filme die ganze Zeit, spielen darin mit, sind zugleich Akteure und das Kamerateam.

Das Lieblingssujet des Filmregisseurs ist jedoch und bleibt zweifelsohne der Kriegsfilm. Er schuf für die fähigsten Köpfe darin seine bedeutendsten Rollen, kreierte auch neue Möglichkeiten, aus ungezählten Fahrzeugen die anderen zu zerstören, und alles ist mehr in Bewegung, läuft schneller und gefahrvoller.

Mit ungeheurer Gewalt können einzelne Köpfe andere aus dem Film heraus löschen, werfen sie aus der Geschichte, wie vom einem Blitz getroffen, vom magischen Zelluloid mit einem einzigen Knopfdruck „herauskatapultiert“. Dies muß für den Filmregisseur doch sicherlich sehr viel effektvoller sein, es wirkt wohl auch wesentlich spannender, und manches seiner „Opfer“, den wirklich Auserwählten, erhascht dabei, in jenem Moment seiner Auslöschung, vielleicht sogar einen ganz kurzen Blick in sein berühmtes Studio. Er hat es noch immer am besten gemeint, wenn eine möglichst große Zahl aus seinen Filmen verschwindet. Am besten, wenn es alle wären. Dann könnte er wohl ganz von vorne beginnen, ganz neue Filme entwickeln, ganz andere Sujets erfinden, denn Zeit ist ein Trick nur des Filmregisseurs.

So schuf er noch manches weitere Genre. Und eines davon heißt Komödie. Es muß ja etwas geben, das man den Schauspielern schließlich erzählt. Ihr Tun sei nämlich selbst gewollt, ihr freier Wille entscheide, damit sie wenigstens halbbewußt ihre Hauptrollen spielen; man stets aber jenes Gefühl beibehält, die ganze schreckliche Anstrengung, ihr baldiges Dahinscheiden geschehe ohne wirklichen Grund, die Welt sei eben „sinnentleert“. Denn Frustration ist systemimmanent. Weshalb man sie niemals aufklären darf, das würde dem Ziele nur schaden, nicht extra noch darauf hinweisen, auf gar keinen Fall jemand sagen, daß sie überhaupt nicht verstehen, was sie doch eigentlich tun. Denn sonst könnte es seine Filme wohl überhaupt nicht mehr geben. Dann gäbe es nicht einmal Schauspieler. Der Filmregisseur wäre arbeitslos.